Ein Auto ist darauf ausgelegt, uns schnell und effizient von einem Ort zum anderen zu bringen. Doch was, wenn die Kontrollleuchten auf dem Armaturenbrett aufleuchten, obwohl der Mechaniker versichert, dass alles in bester Ordnung ist? Dieses Dilemma ist vergleichbar mit dem Erleben von Menschen mit somatoformen Störungen. Sie erleben echte körperliche Symptome, doch medizinische Untersuchungen können keine zugrundeliegende organische Ursache finden.
In diesem Artikel werden wir uns eingehend mit somatoformen Störungen befassen. Wir werden verstehen, was somatoforme Störungen sind, welche Symptome damit verbunden sind und wie sie diagnostiziert werden. Weiterhin werden wir die möglichen Ursachen erforschen und uns mit den verfügbaren Behandlungsoptionen auseinandersetzen. Aktuelle Forschungen und Studien zum Thema werden uns dabei helfen, ein umfassendes Verständnis dieser oft missverstandenen psychischen Gesundheitsproblematik zu erlangen.
Zusammenfassung:
- Was sind somatoforme Störungen: Somatoforme Störungen sind ein komplexer Zustand, bei dem Personen körperliche Beschwerden erleben, für die keine organische Ursache gefunden werden kann. Die Diagnose und Terminologie hat sich mit der Einführung der ICD-11 zu “somatische Belastungsstörung” geändert, um eine ganzheitlichere Sichtweise auf die Bedingung zu reflektieren.
- Ursachen und Symptome: Die Ursachen sind vielschichtig und können von genetischen, umweltbezogenen und persönlichen Faktoren beeinflusst werden. Die Symptome variieren, können aber erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität haben.
- Behandlungsansätze: Eine erfolgreiche Behandlung erfordert eine Kombination aus Psychoedukation, Psychotherapie, Entspannungstechniken und in einigen Fällen medikamentöser Therapie, wobei der Schwerpunkt auf einer individuell zugeschnittenen Therapie und der Reduzierung von Stress liegt.
Somatoforme Störungen – Was ist das?
Somatoforme Störungen zeichnen sich durch eine rätselhafte Eigenschaft aus: Die Betroffenen erleben echte körperliche Beschwerden, doch medizinische Untersuchungen können keine organische Ursache dafür aufdecken. Diese Störungen bilden eine Schnittstelle zwischen der medizinischen und psychologischen Welt, und ihre Erforschung birgt die Hoffnung, das Rätsel des Körper-Geist-Zusammenspiels zu entwirren.
Statistik
In Deutschland treten somatoforme Störungen recht häufig auf und zeigen sich über alle Altersgruppen hinweg im Erwachsenenalter. Die Zahlen geben zu denken: Die 12-Monats-Prävalenz liegt bei etwa 7,5%, wobei Frauen eine höhere Anfälligkeit zeigen als Männer. Eine WHO-Studie, die in verschiedenen westdeutschen Primärversorgungseinrichtungen durchgeführt wurde, deckte sogar eine 4-Wochen-Prävalenz von 28,5% auf. Diese Zahlen offenbaren, wie weitreichend somatoforme Störungen in der Bevölkerung verbreitet sind.
Formen
Die somatoformen Störungen umfassen ein Spektrum von Unterformen, wobei jede ihre speziellen Symptomatiken und Schweregrade aufweist. Zu den bekanntesten zählen die
- Somatisierungsstörung,
- die Hypochondrische Störung und
- die Somatoforme autonome Funktionsstörung
Mythen
Obwohl die Beschwerden und der Leidensdruck sehr real sind, haftet den somatoformen Störungen eine Reihe von Mythen an. Es ist ein Irrglaube, dass solche Störungen bei Kindern selten sind oder dass die Symptome der Betroffenen nicht ernst genommen werden sollten. Auch die Vorstellung, dass unerklärliche körperliche Symptome ausreichend für eine Diagnose sind, oder dass Schmerz das einzige Symptom ist, entspricht nicht der Wahrheit. Ebenso ist die Annahme, Medikamente seien die primäre Behandlungsoption, ein Mythos, der korrigiert werden muss.
Somatoforme Störungen: Symptome
Die Symptome von somatoformen Störungen können vielfältig und oft beunruhigend für die Betroffenen sein, da sie echte körperliche Beschwerden erleben, für die keine medizinische Ursache gefunden werden kann. Hier sind die Symptome, die in verschiedenen verlässlichen Quellen aufgeführt werden:
- Atmungssymptome: Gefühl der Luftnot, Kurzatmigkeit, Engegefühl in der Brust, Schwierigkeiten beim Atmen.
- Muskel- und Gelenksymptome: Rückenschmerzen, Schmerzen in Armen und Beinen, Kribbeln
- Gastrointestinale Symptome: Bauchschmerzen, Übelkeit, Völlegefühl, Blähungen, Durchfall
- Kardiovaskuläre Symptome: Atemlosigkeit, Brustschmerzen
- Urogenitale Symptome: Dysurie, Miktionshäufigkeit, Ausfluss, chronische Schmerzen im Unterbauch, unangenehme Empfindungen im oder um den Genitalbereich
- Haut- und Schmerzsymptome: Hautverfärbungen, Schmerzen in den Gliedern, Taubheit
- Allgemeinsymptome: Müdigkeit und Erschöpfung, stehen dabei Schmerzsymptome an erster Stelle
- Weitere Symptome: Beschwerden in verschiedenen, wechselnden Organsystemen, wie dem Magen-Darm-Trakt, Urogenitaltrakt, der Muskulatur, dem Herz-Kreislauf-System und den Sinnesorganen
Diese Symptome können alleine oder in Kombination auftreten und variieren in ihrer Intensität. Es ist wichtig zu betonen, dass, obwohl diese Symptome real und oft belastend sind, medizinische Untersuchungen typischerweise keine organische Ursache dafür finden. Das macht die Diagnose und Behandlung von somatoformen Störungen zu einer komplexen und oft langwierigen Angelegenheit. Die gute Nachricht ist, dass es effektive Behandlungen gibt, die den Betroffenen helfen können, ihre Symptome zu managen und eine bessere Lebensqualität zu erlangen.
Somatoforme Störungen: Diagnose nach ICD-11
Die Diagnose von somatoformen Störungen hat sich mit der Einführung der 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11), die ab Januar 2022 gültig ist, geändert. Der Begriff “somatoforme Störungen” wurde durch “somatische Belastungsstörung” ersetzt. Dies spiegelt eine Verlagerung in der diagnostischen Kategorisierung wider, die darauf abzielt, die oft stigmatisierende Unterscheidung zwischen somatoformen und anderen Störungen zu verringern, indem die Diagnose nicht mehr zwingend die Abwesenheit von Körpersymptomen erfordert.
In ICD-11 wird die neue Diagnose “Bodily Distress Disorder” (6C20) eingeführt, die große Überschneidungen mit der “Somatic Symptom Disorder” des DSM-5 aufweist. Dies ersetzt die “anhaltende somatoforme Schmerzstörung” (F45.40) der ICD-10 sowie weitere somatoforme Störungen. Diese Änderung erkennt an, dass physiologische und psychische Aspekte oft zusammenspielen, und räumt der empfundenen Not der Patienten mehr Beachtung ein.
Die spezifischen diagnostischen Kriterien für die neue “Bodily Distress Disorder” nach ICD-11 sind:
- Körperliche Beschwerden: Die Patienten erleben anhaltende oder wiederkehrende körperliche Beschwerden, die nicht oder nicht ausreichend durch eine organische Erkrankung erklärt werden können.
- Emotionale Belastung: Die körperlichen Beschwerden verursachen signifikante emotionale Belastung oder Beeinträchtigung im sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
- Keine absichtliche Herstellung: Die Symptome werden nicht absichtlich hergestellt oder vorgetäuscht.
Die “Bodily Distress Disorder” in der ICD-11 wird ähnlich wie die “Somatic Symptom Disorder” im DSM-5 diagnostiziert, aber sie haben auch einige Unterschiede. Es ist wichtig, dass Ärzte und Psychologen sich mit diesen Änderungen vertraut machen, um eine genaue Diagnose zu stellen und die geeignete Behandlung zu bieten.
Somatoforme Störungen: Ursachen
Die Ursachen von somatoformen Störungen sind vielschichtig und individuell, wobei eine klare Bestimmung der Ursachen oft schwierig ist. Hier sind einige der möglichen Faktoren und Aspekte, die in verschiedenen Quellen hervorgehoben wurden:
- Erziehungsstile: Ein bestimmter Erziehungsstil, der keine emotionale Äußerung zulässt, könnte eine Rolle spielen. Dies wird durch das Sprichwort „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ veranschaulicht, das auf eine Erziehung hinweist, die das Zeigen von Schmerz oder Unbehagen entmutigt1.
- Multifaktorielle Ursachen: Die Ursachen für somatoforme Störungen können als multifaktoriell oder multikausal beschrieben werden, da sie eine Mischung aus körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren sowie genetischen, umweltbezogenen und kulturellen Aspekten umfassen können. Auch die Persönlichkeit und Veranlagung eines Individuums können eine Rolle spielen2.
- Unklare Ursachen: Die genauen Ursachen für somatoforme Störungen sind nicht vollständig geklärt. Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle, aber keines davon ist empirisch belegt. Somit ist es schwierig, somatoforme Störungen auf eine einzige Ursache zurückzuführen3.
- Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Es wird angenommen, dass die Ursachen für somatoforme Störungen aus einem Zusammenspiel von mehreren Faktoren resultieren, darunter Vererbung, Erlebnisse in der Kindheit und psychische Belastung.
- Wahrnehmung normaler Körperprozesse: Bei somatoformen Störungen werden normale Körperprozesse oft intensiver wahrgenommen und als Anzeichen einer körperlichen Erkrankung interpretiert. Es gibt oft individuelle Auslöser wie Stress oder belastende Lebenssituationen, die zu einer normalen körperlichen Reaktion führen, die dann möglicherweise fehlinterpretiert wird.
Diese verschiedenen Ursachen und Faktoren unterstreichen die Komplexität von somatoformen Störungen und die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes, der sowohl die psychologischen als auch die physischen Aspekte des Individuums berücksichtigt, um ein tieferes Verständnis dieser Bedingung zu erlangen und effektive Behandlungsstrategien zu entwickeln.
Somatoforme Störungen: Behandlung
Die Behandlung somatoformer Störungen ist individuell zugeschnitten, da es keine einheitliche Therapie gibt. Im Folgenden sind einige wesentliche Aspekte der Behandlung somatoformer Störungen skizziert, die auf verschiedenen vertrauenswürdigen Quellen basieren:
1. Therapeutische Beziehung und Psychoedukation:
- Der erste Schritt zur erfolgreichen Behandlung somatoformer Störungen ist der Aufbau einer guten, vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient, da Menschen mit somatoformen Störungen oft das Vertrauen in Ärzte verloren haben.
- Psychoedukation ist ein wesentliches Fundament für die Behandlung. Hier erklärt der Therapeut oder Arzt den Patienten die psychischen Prozesse, welche eventuell die somatoforme Störung verursachen. Nur mit diesem Verständnis wird die therapeutische Arbeit Früchte tragen.
2. Psychotherapie:
- Psychotherapie wird als der hilfreichste Behandlungsansatz für somatoforme Störungen angesehen. Es ist essentiell, dass der behandelnde Arzt die psychischen Hintergründe der körperlichen Beschwerden erkennt und ernst nimmt, anstatt dem Betroffenen zu versichern, dass er „nichts hat“.
3. Körperliche Bewusstsein und Entspannungstechniken:
- Es ist wichtig, dass die Betroffenen durch die Therapie bewusst erleben lernen, wie der eigene Körper auf unterschiedliche Gefühle reagiert.
- Die Reduzierung von psychosozialem Stress und die Anwendung von Entspannungsverfahren wie der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson können oft einen positiven, unterstützenden Effekt haben, da somatoforme Störungen häufig mit Stress und Überforderung einhergehen.
4. Medikamentöse Therapie:
- Obwohl es keine einheitliche medikamentöse Therapie gibt, können bei Auftreten von psychischen Begleiterkrankungen angstlösende Medikamente und Antidepressiva angezeigt sein.
5. Ziele der Behandlung:
- Die Behandlung zielt darauf ab, ein verständliches und plausibles Erklärungsmodell für die Entstehung und Chronifizierung körperlicher Symptome zu erarbeiten, die Notwendigkeit kontinuierlicher medizinischer Behandlungen zu reduzieren und gegebenenfalls beschwerdedämpfende Medikamente zu optimieren oder zu reduzieren.
Diese facettenreiche Herangehensweise an die Behandlung somatoformer Störungen zeigt die Komplexität des Zustands und die Notwendigkeit einer umfassenden, individuell zugeschnittenen Behandlungsstrategie.
Abschlusswort von Mentalwohl
Somatoforme Störungen, nun unter dem Begriff somatische Belastungsstörungen bekannt, bieten ein Fenster in die komplizierte Beziehung zwischen unserem Körper und unserem Geist. Die Reise durch die Verständnis- und Bewältigungspfade dieser Störungen kann lang und herausfordernd sein, doch sie ist keineswegs hoffnungslos. Mit den richtigen Informationen, einem verständnisvollen Behandlungsteam und einer unterstützenden Gemeinschaft ist der Weg zur Linderung und vielleicht sogar Heilung gut erreichbar.
Auch wenn die Diagnose zunächst beängstigend sein kann, bietet sie auch eine Chance – die Chance, ein tieferes Verständnis und eine bessere Kontrolle über das eigene Wohlbefinden zu erlangen. Die Forschung in diesem Bereich entwickelt sich ständig weiter, und mit ihr die Hoffnung auf noch effektivere Behandlungsstrategien. Jeder Schritt zur Entmystifizierung somatoformer Störungen, zur Bereitstellung genauerer Informationen und zur Entwicklung besserer Behandlungsansätze ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Häufig gestellte Fragen
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Was unterscheidet somatoforme Störungen von anderen psychischen Störungen?
Somatoforme Störungen zeichnen sich durch körperliche Beschwerden aus, für die keine organische Ursache gefunden werden kann. Während andere psychische Störungen auch mit körperlichen Symptomen einhergehen können, steht bei somatoformen Störungen die körperliche Empfindung im Vordergrund. Die neue Bezeichnung “somatische Belastungsstörung” in der ICD-11 reflektiert das Zusammenspiel zwischen Körper und Geist in einer weniger stigmatisierenden Weise.
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Können somatoforme Störungen geheilt werden?
Die Behandlung von somatoformen Störungen zielt darauf ab, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und ihre Fähigkeit zu fördern, mit den Symptomen umzugehen. Eine „Heilung“ im traditionellen Sinne kann schwierig sein, aber mit einer geeigneten Behandlung, die Psychotherapie, Stressmanagement und gegebenenfalls Medikamente umfasst, können die Symptome deutlich gelindert und das Wohlbefinden verbessert werden.
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Wie wird die Diagnose somatoforme Störung gestellt?
Die Diagnose erfolgte traditionell durch den Ausschluss organischer Ursachen für die körperlichen Beschwerden. Mit der Einführung der ICD-11 hat sich die Diagnosekriterien zu “Bodily Distress Disorder” geändert, die sich auf die Präsenz von körperlichen Beschwerden, die emotionale Belastung und die fehlende absichtliche Herstellung der Symptome konzentriert. Die Diagnose erfordert eine sorgfältige Untersuchung durch medizinisches und psychologisches Fachpersonal, um andere mögliche Ursachen auszuschließen und eine geeignete Behandlung zu planen.